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Dienstag, 31. Dezember 2019

Lissabon 2019 - Auf neuen Pfaden

Wer wie wir, mehrfach an Orte zurückkehrt und sie einfach so schätzt, dass er es auch in Zukunft immer wieder machen möchte, der wird irgendwann an einen Punkt gelangen, wo es darum geht, wieder Neues zu entdecken. In Ecken vorzustoßen, die man nicht kennt. Den Entdeckergeist wiederzufinden, der bei häufigen Besuchen, zugegebenermaßen, etwas verloren geht.
Für uns ist Lissabon so ein Ort. Wir kommen hier immer wieder gerne hin und fühlen uns auch sehr wohl. Wir verlaufen uns nicht und auch einen Stadtplan oder das Handy brauchen wir zum navigieren selten.



In den letzten Jahren kam der Wunsch wieder mal in neue Viertel zu gehen bzw. lange nicht mehr besuchte Orte wieder zu entdecken. Getrieben wurde der Wunsch auch davon, dass die Stadt inzwischen so voll ist, dass dieser verschlafene Charakter und die Leichtigkeit des Lebens dort etwas leidet. Das große Geschäft hat sich in den Jahren nach der großen Krise entwickelt und wurde noch zusätzlich befeuert, als nur noch wenige in den östlichen Mittelmeerraum reisen wollten. Im Innenstadtbereich findet eine Welle der Investitionen statt, die ein neues Zeitalter für die Metropole eingeläutet hat. Dadurch konnte viel der alten Bausubstanz, erhalten und restauriert werden. Einige Bereiche der Uferzone erstrahlen in den schönsten Pastellfarben, um sich mit dem Sonnenuntergang zu komplementieren. Dazu ist das Leben zurückgekehrt und es ist immer was los am Tejo.
Alles schön und gut, aber auch schon zig mal gesehen. Wir wollten mal in die zweite Reihe schauen und erfahren, was sich dort tut. Ein interessanter Bereich ist Intendente. Was vor einem Jahrzehnt noch als verrucht und nicht ungefährlich galt, wurde 2012 geräumt und konsequent auf Vordermann gebracht. Vor allem der Largo do Intendente mit seinem Eyecatcher an der Av Almirante Reis, dem im Jugendstil erbauten Hotel 1908. Aber auch die kleineren Gebäude im pombalinischen Stil, vor allem das Viuva Lamego Concept Store, sind einen genaueren Blick wert.


Intendente

Links und rechts der bedeutsamen Av Almirante Reis, die die Nord-Süd Achse von der Innenstadt zum Flughafen bildet, findet sich noch viel Lokalkolorit. Die kleinen Tante Emma Läden, Restaurants für die einfachen Leute und viele Geschäfte für den täglichen Bedarf existieren und bieten einen Einblick in die portugiesische Lebensweise des Alltags, wobei es doch recht international wirkt. Neben Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien, gibt es hier (und in ganz Lissabon) eine wachsende Community Nepalesen. Das merkt man vor allem in den kleinen Supermärkten und der großen Auswahl an landestypischen Restaurants. Sie finden hier gute Arbeitsbedingungen und auch klimatisch ist vieles wie daheim. Somit ist Intendente und das angrenzende Graca Viertel, eine art multikulti Zone und Auffangbecken für Menschen aus aller Herren Länder, ohne die oftmals damit einhergehenden sozialen Probleme zu haben. Hier ist es vielmehr so, dass die Viertel recht homogen sind und wenn einer soziale Probleme hat, haben sie alle, und umgekehrt.
Wenn wir den Hügel zur rechten der Almirante Reis hochlaufen, kommen wir ins gutbürgerliche Graca Viertel. Hier hat sich auch einiges getan. Es gibt zwar noch die dunkel gekleideten, und gebückt laufenden, älteren Damen, aber eine Verjüngungskur ist auch hier in vollem Gange. Ich hatte ja bereits im vorangegangenen Post über Streetart berichtet, die auch in dieser Nachbarschaft immer gegenwärtiger wird, aber es entstehen hier viele kleine Startups. Seien es Co-work Plätze, Künstlerateliers oder vegane Cafés. Der Umbruch ist nicht mehr aufzuhalten und hoffentlich erfolgt er sachte und mit der nötigen Weitsicht.

Nossa Sra do Monte vom Hügel Sta. Ana aus gesehen

Nicht allzuweit entfernt liegt ein weniger bekannter Miradouro, nämlich Nossa Senhora do Monte. Er ist etwas nach hinten versetzt, man kann hier aber prima die beiden naheliegenden Aussichtspunkte Castelo und Miradouro da Graca sehen, und hat natürlich auch das volle Panorama über die Baixa und den Tejo mit der Almada auf der anderen Seite des Ufers.
Warum hat Lissabon eigentlich so viele Miradouros? Nunja, es ist recht einfach. Nicht nur Rom wurde auf 7 Hügeln erbaut, und man bewegt sich in Lissabon eigentlich ständig auf und zwischen ihnen. Von ihren Gipfeln bzw. Hängen hat man dann auch entsprechende Ausblicke.

Miradouro Nossa Sra do Monte

Was in diesen Vierteln an den Hängen ganz schön ist, sind die Treppen, die man immer wieder findet, um den Weg zu den Hauptstraßen abzukürzen. In der Nähe des o.g. Aussichtspunkts gibt es z.B. die Escadinhas Damasceno Monteiro, die ganz typisch sind. Man kann hier teilweise den Menschen auf den Esstisch schauen, oder einfach dabei beobachten, wie die Nachbarinnen den neusten Klatsch und Tratsch austauschen.

Escadinhas

Der Blick auf den gegenüberliegenden Hügel ist zu verlockend und nach Überquerung der Almirante Reis, befindet man sich wieder im Klettermodus. Entweder man lässt sich durch die pittoresken Gassen kreuz und quer treiben, oder wählt den direkten Weg zum höchsten Punkt. Dieser ist ein bedeutender Platz in der Geschichte der Stadt. Campo Mártires da Pátria wurde den Opfern des vermeintlichen Staatsstreichs von 1817, rund um den hochdekorierten und angesehenen General Gomes Freire de Andrade, gewidmet. Der Platz ist auch als Campo Santana bekannt und um ihn herum liegen einige bedeutsame Organisationen. So findet man dort, neben der deutschen Botschaft das Goethe Institut, sowie die medizinische Fakultät der Universität Lissabon. Heute finden sich im kleinen Garten freilaufende Hühner und Gänse, die dort inzwischen eine Attraktion sind.


Campo Mártires da Pátria

Wenn man in die Rua Julio de Andrade einbiegt, bekommt man einen Eindruck von der Bedeutsamkeit dieses Viertels. Hier reihen sich Stadtpaläste an Herrenhäuser und man kann nur erahnen welche vornehmen Leute dort lebten. Am Ende der kleinen Straße gelangt man an den ebenso wenig überlaufenen Jardim do Torel, der auch einen schönen Ausblick bietet.



Stadtpalais, Jardim do Torel und Elevador do Lavra

Etwas weiter gelangt man, inmitten von alten und hochmodernen Gebäuden der Universität, an die Haltestelle des Elevador do Lavra. Es ist die dritte Standseilbahn der Stadt, und die am wenigsten besuchte. Von hier kann man sich dann gemütlich wieder in den Trubel der Stadt stürzen. Sie endet in einer Parellelstraße der Avenida da Liberdade.


Miradouro do Monte Agúdo

Wenn wir uns wieder Intendente zuwenden, aber den Hügel in nördlicher Richtung erklimmen, gelangt man an einen weiteren, wenig bekannten Miradouro. Es handelt sich um den Aussichtspunkt Monte Agúdo, wo man, außer ein paar Spaziergänger mit ihren Hunden, eine gute Chance hat praktisch allein zu sein. Entlang der Rua Penha de Franca gelangt man zur gleichnamigen Kirche. Die Namensgebung geht auf den Ort einer Marienerscheinung in Spanien im 15.JH zurück. Das Gotteshaus selbst ist zwar groß aber von außen eher unscheinbar. Das ändert sich beim Betreten. Hier wird, wie so oft, nicht gekleckert. Aufwendige Malereien, Vergoldungen und wertvolle sakrale Objekte kann man hier sehen.

Penha de Franca

Vom Wasserturm um die Ecke hat man wieder einen schönen Ausblick, jedoch mit der Besonderheit, dass dieser nach Norden ausgerichtet ist, und nicht wie fast alle anderen, in südlicher Richtung.
Wenn man nun wieder den Hang hinab läuft, gelangt man in die Gemeinde Arroios. Direkt an der Av Almirante Reis liegt ein Klassiker der gutbürgerlichen Küche des Landes. Die Cervejaria Portugalia, die hier ihren Hauptsitz hat(te). Inzwischen gibt es mehrere Niederlassungen, aber hier fing alles an und wenn die Lisboetas von der Portugalia sprechen, kann man davon ausgehen, dass es um das Gründungshaus geht, sofern nicht anders benannt.
Wenn man aufmerksam geschaut hat, wird das große Brachgelände hinter dem Restaurant aufgefallen sein. Es handelt sich um das ehemalige Brauereigelände, das derzeit Mittelpunkt einer hitzigen Debatte ist. Mit den Plänen, es wieder nutzbar zu machen, kam das Projekt Portugalia Plaza auf den Tisch. Jedoch sieht es vor, dass hier zunächst ein 60m hoher Wohnturm errichtet werden sollte. Inzwischen ist man bei 49m, aber auch so noch immer etwa doppelt so hoch wie die umliegenden Gebäude. Es bleibt also spannend wie es damit weitergeht.
In der Nähe liegt das Hospital Dona Estefania, benannt nach der portugiesischen Königin D.Estefania de Hohenzollern-Sigmaringen. Hier wurde 1920 auch eines der drei Hirtenkinder interniert, das die Marienerscheinung in Fatima erlebt hatte. Maria soll dem Kind auch hier noch erschienen sein, bevor es an dieser Stelle verstarb.


Denkmal für Gomes-Freire gegenüber der Militärakademie

Wenn man dann links in die Rua D. Estefania einbiegt, gelangt man kurz darauf an die portugiesische Militärakademie. Von dort geht auch die Rua Gomes Freire ab... Schonmal gehört? Richtig, weiter oben. Wenn man der Straße weiter folgt, gelangt man an den Platz Campo Mártires da Patria.


Wenn man derzeit ortskundige Leute fragt, wohin man kann und wo man keinen Touristenhorden begegnet, könnte es sein, dass man in den Osten der Stadt geschickt wird. In den etwas heruntergekommenen Ostteil der Stadt zog es bisher nicht sonderlich viele, wenn man mal das alte Expo Gelände außen vor lässt. Wie schon die Pet Shop Boys das bessere Leben der West End Girls besangen, so ist es in Lissabon nicht anders. Eigentlich ist es überall so: das East End ist immer eine Hochburg der Arbeiterbevölkerung. Es wird vernachlässigt und erst wenn die Gentrifizierung die westlichen Stadtteile erfasst hat und in vollem Gang ist, belebt sich der Ostteil einer Stadt.
Uns zog es in das Gebiet zwischen Sta. Apolonia und dem Parque das Nacoes. In Xabregas, Beato und Marvila finden sich genau die Viertel, die Hipness ausstrahlen. Alte Industrieanlagen, Lagerhallen und Werkstätten entlang und jenseits der Av. Infante D. Henrique. Viele dieser Bauten sind schon seit Jahren dem Verfall preisgegeben, erfahren aber seit einigen Jahren mehr und mehr Aufmerksamkeit und Beachtung. Vor Jahren begann es in Xabregas, als die bekannte Kunständlerin Filomena Soares das Unmögliche wagte und in dieser völlig "unschicklichen" Gegend ihre Galerie eröffnete. Es dauerte nicht lange, bis andere wegweisende Künstler und Freidenker ihr folgten und den Osten eroberten. Besonders in Marvila um Poco do Bispo hat sich schon viel getan. Wer dort hinkommt wird auch schnell verstehen warum. Um den kleinen Park liegen atemberaubend schöne Bauten. Angefangen an der Kopfseite, mit dem ehemaligen Firmensitz José Domingos Barreiros, das Anfang des Jahres einen neuen Eigentümer fand. Rechts davon befinden sich die zwischen 1910 und 1917 erbauten Lagerhallen der Firma Abel Pereira da Fonseca mit seinen auffälligen runden Fenstern, hinter denen sich inzwischen angesagte Cafés und Restaurants verbergen. Wenn man allerdings mal um die Ecke schaut, wird man feststellen, dass das nicht alles sein kann, denn das Gebäude ist ca 100m lang. Es beherbergt außerdem einen modernen Coworking-Space.



Rund um Poco do Bispo

Zwei Straßen weiter findet man an der Rua Fábrica de Material de Guerra, die Fábrica do Braco de Prata. Nicht nur der Name der Straße lässt schon vermuten was einst hinter den Mauern verbarg, nämlich eine Waffen- und Munitionsfabrik. Heute ist sie ein Kunst- und Kulturzentrum, das einen Besuch lohnt.


Braco de Prata

Weiter entlang der Rua Fernando Palha findet man zwischen Werkstätten und Lagern, weitere Galerien, Cafés und Mikrobrauereien. An Essensgelegenheiten mangelt es nicht. Hinter den bereits genannten Mauern Abel Pereira findet man den Kaffeeröster Royal Rawness oder das Restaurant des Szenekochs Chakall. Gegenüber das nette Café com Calma. Selbst einer der besten Köche des Landes, Henrique Sá Pessoa, dessen Restaurant im Westen, Alma, wir sehr empfehlen können, hat dort ein Atelier.


Royal Rawness

Ohnehin ist diese Straße und weiter, die Rua do Acucar "the place to be". Es gibt dort Vintage- und Antiquitätenshops, wie das Cantinho do Vintage oder das Revivigi. Aber auch für die aktive Gesellschaft wird genug geboten. Parcours oder Capoeira ist auch möglich.

Revivigi

Zum Tejo hin entstehen nun Wohnungen für Besserverdiener mit unverbaubarem Blick auf das blau des Flusses. In die entgegengesetzte Richtung findet man hingegen Kontrastprogramm, denn an den Hängen befinden sich Hochhäuser des Sozialviertels von Marvila. Jedoch sind sie einen Besuch wert, wie ich im vorangegangenen Post beschrieben habe, denn wurden diese durch große Murals verschönert.

Marvila Murals

Es ist wieder einmal erstaunlich wieviel Neues man entdecken kann, wenn man nur will. Obwohl doch ziemlich vertraut, haben wir ganz andere Seiten kennenlernen dürfen, und ich muss sagen, dass es Lust auf mehr gemacht hat.


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